Bei manchen Gerichtsverfahren fällt es auch dem fachkundigen Leser schwer, nicht an der Realitätsbezogenheit der Kläger zu zweifeln oder ihnen ein ganz unverblümtes "Geht's noch?!" entgegenzuschleudern.
Was war passiert? Bei einer Hochzeitsfeier hatte der vom Brautpaar engagierte Photograph offenbar vergessen, die aufsteigenden Luftballons mit abzulichten. Dies ist sicherlich ein Fehler und bedauernswert, was das hiermit befasste Amtsgericht Köln auch in der Verhandlung mitteilte. Allerdings ging es in dem Verfahren nicht etwa um eine etwaige Minderung der vereinbarten Vergütung oder eine andere Art der Kompensation, sondern um Schmerzensgeld, das die Brautleute wegen der ihr gesamtes (Ehe-) Leben überschattenden Enttäuschung von dem Photographen forderten, und dies in Höhe von mindestens EUR 2.000,- (Urteil vom 08.04.2024, Az. 13 S 36/22). Das Gericht sah dies anders und wies die Klage ab.
Ebenfalls von einer gewissen Unfähigkeit, den eigenen "Verantwortungskreis" einzuschätzen, zeugt das Begehren der Kundin eines Textil-Outlets, die sich bei der Anprobe eines T-Shirts mit dem an diesem befestigten Preisschild offenbar so intensiv beschäftigte, dass sie sich hiermit ins Auge stach und den Geschäftsinhaber auf Zahlung von mindestens EUR 5.000,- Schmerzensgeld in Anspruch nahm. Das Landgericht München I wies die Klage der sich auf die Verletzung von Verkehrssicherungspflichten berufenden Kundin mit dem Argument ab, dass diese Verpflichtung Geschäftsinhaber "nicht für alle denkbar entfernten Möglichkeiten eines Schadenseintritts träfe". Den Vorhalt der Klägerin, der Ladenbetreiber hätte auf das Vorhandensein eines Preisschilds mit einem separaten Hinweis aufmerksam machen müssen, hielt das Gericht für "lebensfremd und nicht zumutbar" (Urteil vom 28.05.2024, Az. 29 O 13848/23).
Einen im Vergleich hierzu fast schon krassen Wertungs-Gegensatz findet man im Urteil eines anderen Gerichts - auch wenn dieses schon zwölf Jahre her ist: Seinerzeit entschied das Landgericht Koblenz bei einem Unfall auf einer Wasserrutsche eines Spaßbads. Der Kläger hatte damals die Rutsche "de lege artis" benutzt und war von oben nach unten gerutscht. Der Beklagte pflegte eine unorthodoxe Benutzungsart und erkletterte die Rutsche von unten nach oben. Im Bereich des Auslaufs kam es dann zur Kollision der beiden Parteien, die für den Kläger mit einer Schienbeinkopffraktur und einem Bänderschaden endete, welche ihn nach Ansicht des medizinischen Gutachters lebenslang beeinträchtigen werden. Hier wurden ebenfalls EUR 5.000,-für angemessen gehalten - vom Gericht, nicht vom Kläger.
Auch wenn ein solcher Schmerzensgeld-Betrag heute wahrscheinlich nicht mehr ausgeurteilt würde, schon weil das beim Rutschen-Fall an Idiotie kaum zu überbietende Handeln des Beklagten stärker berücksichtigt würde, und auch wenn die Gerichte in den beiden ersten Fällen die Klagen richtigerweise abwiesen: Dass sich Gerichte trotz Überlastung mit derartig überspannten Vorstellungen überhaupt beschäftigen müssen, ist eigentlich ein Unding. Und dass vor nicht allzu langer Zeit eine tatsächlich schwere Folge mit einem derart niedrigen Betrag abgefunden wurde, fast schon Zynismus.
Zum Schluss soll aber in diesem Kontext noch eine gute Nachricht Erwähnung finden, auch wenn ihr ein tragischer Fall zu Grunde liegt. Es geht um eine der - relativ raren - Änderungen in der Rechtsprechung beim höchsten deutschen Instanzengericht, dem Bundesgerichtshof (BGH): Dieser hatte seine jahrzehntelange Spruch-Praxis, wonach beim Schmerzensgeld zwischen physischen und psychischen Folgen unterschieden wurde, aufgegeben, um die Gleichstellung dieser beiden Folgen zu gewährleisten. Außerdem änderte das Gericht die bisherige Ansicht, wonach im Bereich der sogenannten Schockschäden die psychischen Beeinträchtigungen nur dann als Gesundheitsschaden angesehen wurden, wenn sie "pathologisch fassbar" - also als Krankheitsbild definierbar - waren und sie über die "gewöhnlichen Beeinträchtigungen" hinausgehen, denen Angehörige beim Tod oder anderen schweren Schäden eines nahen Angehörigen ausgesetzt sind.
Hintergrund dieser durchaus nicht unwichtigen Entscheidung war die Schmerzensgeld-Klage eines Vaters, dessen Tochter im Alter von 5 und 6 Jahren mehrfach vom Beklagten vergewaltigt wurde. Dieser wurde zwar rechtskräftig verurteilt, der Vater erlitt aber im Zuge des Strafverfahrens eine reaktive Depression und war zeitweise nicht mehr in der Lage, seinem Beruf nachzugehen. Das Argument, die Beeinträchtigung des Angehörigen (des Vaters) gehe hier ganz erheblich über das "gewöhnliche Maß" hinaus, ließ das erstinstanzliche Gericht unbeeindruckt, sodass es einen Schmerzensgeld-Betrag von € 4.000,- ausurteilte. Der BGH hob die Entscheidung des Berufungsgerichts auf - zum einen wegen der von diesem ohne ausreichende Begründung festgelegten Schmerzensgeldhöhe, zum anderen stellte er hiermit psychisch vermittelte "Schockschäden" rein physischen Beeinträchtigungen gleich.
Andreas Pflieger
Rechtsanwalt