Das Urteil BAG 2 AZR 596/20 behandelt die Wirksamkeit von drei außerordentlichen Kündigungen, die aufgrund sexueller Belästigung ausgesprochen wurden.

Hier folgt eine Zusammenfassung der Sachlage, der Prozessgeschichte und der rechtlichen Begründungen.

Tenor des Urteils:
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Sächsischen Landesarbeitsgerichts vom 25. November 2020 – 5 Sa 128/20 – aufgehoben.

Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung – auch über die Kosten des Revisionsverfahrens – an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen.

Leitsatz:
Eine Entblößung der Genitalien eines anderen unter Missachtung seines Rechts auf Selbstbestimmung, wem gegenüber und in welcher Situation er sich unbekleidet zeigen möchte, stellt ein sexuell bestimmtes Verhalten im Sinne von § 3 Abs. 4 AGG dar.

Tatbestand:
Die Parteien streiten über die Wirksamkeit von drei außerordentlichen Kündigungen. Der Kläger war seit 2014 in der Fertigung bei der Beklagten, einem Automobilproduzenten, beschäftigt.

In der Nachtschicht vom 1./2. Mai 2019 zog er einem Leiharbeitnehmer unvermittelt die Arbeits- und die Unterhose herunter, was zu einer Beschwerde des Leiharbeitnehmers führte. Dieser blieb daraufhin der Arbeit fern.

Kündigungen:
Nach mehreren Personalgesprächen entschuldigte sich der Kläger am 15. Mai 2019.

Die Beklagte kündigte ihm jedoch mit Schreiben vom 21. Mai 2019, 5. Juni 2019 und 19. August 2019 jeweils außerordentlich fristlos.

Diese Kündigungen wurden vom Personalleiter der Beklagten und einer weiteren Mitarbeiterin unterzeichnet.

Klage des Klägers:
Der Kläger machte die Unwirksamkeit der Kündigungen geltend, da kein wichtiger Grund vorliege, die Kündigungserklärungsfrist des § 626 Abs. 2 BGB nicht eingehalten sei und der Betriebsrat nicht ordnungsgemäß angehört wurde.

Er behauptete zudem, der Leiharbeitnehmer habe ihm sechs Monate zuvor ebenfalls die Arbeitshose heruntergezogen.

Anträge des Klägers:
Feststellung, dass das Arbeitsverhältnis durch die Kündigung vom 21. Mai 2019 nicht aufgelöst wurde.
Verurteilung der Beklagten zur Weiterbeschäftigung.

Feststellung, dass das Arbeitsverhältnis durch die Kündigung vom 5. Juni 2019 nicht aufgelöst wurde.
Feststellung, dass das Arbeitsverhältnis durch die Kündigung vom 19. August 2019 nicht aufgelöst wurde.

Vorinstanzen:
Das Arbeitsgericht gab der Klage statt.

Das Landesarbeitsgericht wies die Berufung der Beklagten zurück. Die Beklagte verfolgte ihren Klageabweisungsantrag mit der Revision weiter.

Entscheidungsgründe:
Die Revision ist begründet.

Das Landesarbeitsgericht durfte die Berufung gegen das erstinstanzliche Urteil nicht mit der gegebenen Begründung zurückweisen.

Der Senat kann aufgrund der bisherigen Feststellungen nicht über die Kündigungsschutzklage befinden, weshalb die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen wird.

Prüfung der Kündigung vom 21. Mai 2019:
Die Würdigung des Landesarbeitsgerichts zur Unwirksamkeit der Kündigung nach § 174 Satz 1 BGB ist revisionsrechtlich fehlerhaft.

Es fehlt an Feststellungen, ob der Kläger die Unwirksamkeit der Kündigung rechtzeitig gemäß § 4 Satz 1, § 6 Satz 1 KSchG geltend gemacht hat und ob die Zurückweisung unverzüglich erfolgte.

Die Annahme, dass das Zurückweisungsrecht des Klägers nicht nach § 174 Satz 2 BGB ausgeschlossen war, ist ebenfalls fehlerhaft.

Feststellungen zur sexuellen Belästigung:
Das Verhalten des Klägers am 1./2. Mai 2019 stellt „an sich“ einen wichtigen Grund für eine außerordentliche Kündigung gemäß § 626 Abs. 1 BGB dar.

Es handelt sich um eine erhebliche Verletzung der Pflicht zur Rücksichtnahme und möglicherweise um eine sexuelle Belästigung gemäß § 3 Abs. 4 AGG.

Interessenabwägung und Verhältnismäßigkeit:
Die Schwere der Pflichtverletzung ist entscheidend.

Eine Abmahnung ist entbehrlich, wenn eine Wiederholungsgefahr ausgeschlossen ist oder die Pflichtverletzung so schwerwiegend ist, dass ihre Hinnahme dem Arbeitgeber unzumutbar ist.

Das Landesarbeitsgericht hat nicht ausreichend festgestellt, ob der Kläger den Leiharbeitnehmer auch im Genitalbereich entblößen wollte, was für die Beurteilung der Schwere der Pflichtverletzung relevant ist.

Es fehlen Feststellungen zur Kenntnis des Kündigungsberechtigten über die maßgeblichen Tatsachen und zum Inhalt und zeitlichen Verlauf der Betriebsratsanhörung.

Schlussfolgerung:
Die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts über die Kündigung vom 21. Mai 2019 wird aufgehoben und zur neuen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen.

Das Landesarbeitsgericht muss weitere Feststellungen treffen, insbesondere zur Unverzüglichkeit der Zurückweisung der Kündigung, zur Kenntnis des Klägers über die Stellung des „Leiters Personal“ und zur Schwere der Pflichtverletzung.

Auch die Entscheidungen über die weiteren Kündigungsschutzanträge und den Antrag auf vorläufige Weiterbeschäftigung werden aufgehoben und zurückverwiesen.