Im Zivilprozess kommt es häufig vor, dass eine Partei erst in der Berufungsinstanz neues Vorbringen einführt. Doch ist das überhaupt zulässig? Der Bundesgerichtshof (BGH, Beschluss vom 26.10.2023 – III ZR 184/22) hat entschieden, dass neues Vorbringen nicht pauschal ausgeschlossen werden darf, wenn es durch einen Hinweis des Berufungsgerichts veranlasst wurde.

Was bedeutet dieses Urteil für Parteien in einem Zivilprozess? Wann dürfen neue Argumente oder Beweise vorgebracht werden? Und wie müssen Gerichte mit solchen Fällen umgehen?


1. Hintergrund: Worum geht es in diesem Fall?

In einem Rechtsstreit vor dem Kammergericht Berlin (23 U 3/20) hatte das Berufungsgericht die Klage zunächst kritisch hinterfragt. Die Klägerin legte daraufhin eine neue Excel-Liste mit detaillierten Abrechnungen vor, um ihren Anspruch zu untermauern.

Daraufhin reagierte die Beklagte mit einem detaillierten Bestreiten der Angaben in der Liste – allerdings erst im Berufungsverfahren. Das Gericht ließ diesen neuen Vortrag jedoch nicht zu und wies die Berufung der Beklagten ab.

Die Begründung:
Das neue Vorbringen sei verspätet und hätte bereits in der ersten Instanz erfolgen müssen (§§ 530, 531, 296 ZPO).

Der Fall ging schließlich zum BGH, der das Urteil des Berufungsgerichts kassierte.


2. BGH-Entscheidung: Neues Vorbringen darf nicht einfach ausgeschlossen werden

Der BGH (Beschluss vom 26.10.2023 – III ZR 184/22, MDR 2024, 188) stellte klar:

  • Wenn ein Gericht im Berufungsverfahren einen Hinweis gibt, der neues Vorbringen der Gegenseite provoziert, muss dieses berücksichtigt werden.
  • Eine Partei darf darauf vertrauen, dass sie nach einem gerichtlichen Hinweis ihre Argumente oder Beweise ergänzen kann.
  • Das rechtliche Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) wird verletzt, wenn ein solches neues Vorbringen einfach zurückgewiesen wird.

Das bedeutet: Wird eine Partei durch einen Hinweis des Gerichts zu einer neuen Darlegung gedrängt, dann muss die Gegenseite die Möglichkeit haben, darauf zu reagieren.

Relevante Urteile und Fundstellen:

  • BGH, Beschluss vom 26.10.2023 – III ZR 184/22, MDR 2024, 188
  • BVerfG, Beschluss vom 7.10.2016 – 2 BvR 1313/16, juris Rz. 11
  • BGH, Beschluss vom 20.09.2011 – VI ZR 5/11, MDR 2011, 1313 = NJW-RR 2011, 1558

3. Was bedeutet das für die Praxis?

Für Parteien in einem Zivilprozess:

  • Neues Vorbringen ist in der Berufungsinstanz nicht automatisch unzulässig.
  • Wer aufgrund eines Hinweises des Gerichts neue Beweise oder Argumente vorbringt, kann erwarten, dass dies berücksichtigt wird.
  • Wenn die Gegenseite auf ein neues Vorbringen reagiert, muss das Gericht auch diese Argumente anhören.

Für Gerichte:

  • Ein einmal gegebener Hinweis verpflichtet das Gericht, auch eine Reaktion der Gegenseite zuzulassen.
  • Das Gericht darf nicht einfach neues Vorbringen zurückweisen, nur weil es erst in der Berufungsinstanz erfolgt.
  • Der Ausschluss von Beweisen oder Argumenten darf nicht dazu führen, dass eine Partei ihr rechtliches Gehör verliert.

4. Fazit: Stärkung des rechtlichen Gehörs in der Berufung

Der BGH (Beschluss vom 26.10.2023 – III ZR 184/22) macht klar: Wenn ein Berufungsgericht eine Partei zu neuem Vortrag veranlasst, darf die Gegenseite darauf reagieren.

  • Parteien können sich darauf verlassen, dass neue Beweise oder Argumente nach einem gerichtlichen Hinweis berücksichtigt werden müssen.
  • Gerichte dürfen nicht pauschal neues Vorbringen ablehnen, wenn es aus einem Prozesshinweis resultiert.
  • Das Grundrecht auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) muss gewahrt bleiben.

Dieses Urteil sorgt für mehr Fairness im Zivilprozess und verhindert, dass eine Partei durch strikte Verfahrensregeln benachteiligt wird.