Auch in Deutschland verfolgen wir natürlich mit Interesse und Spannung den Fall der Gisèle Pelicot. Gerade die Videos der Sexualstraftaten haben die Zuschauenden schockiert, als diese öffentlich im Prozess gezeigt wurden.


Ob dieses prozessuale Vorgehen auch in Deutschland möglich wäre, wirft zwei Fragen auf:


  1. Sind hier bei uns derartige Verfahren für die Öffentlichkeit zugänglich? 
  2. Werden Videos, die die Taten abbilden, im Prozess gezeigt?


Die deutschen Gesetze legen Regeln fest, wie Strafverfahren verhandeln werden müssen oder können. Grundsätzlich ist es so, dass öffentlich verhandelt wird, § 169 GVG. Jeder darf zusehen und damit auch dem Staat auf die Finger schauen. Nur in Ausnahmefällen soll unter Ausschluss der Öffentlichkeit verhandelt werden. Das ist beispielsweise verpflichtend der Fall, wenn Jugendliche beschuldigt werden, § 48 JGG. Es gibt aber auch die Möglichkeit, dass Opferzeugen von Sexualverbrechen zum Schutze ihrer Privatsphäre den Ausschluss der Öffentlichkeit beantragen können, § 171b GVG. Das Gericht entscheidet dann nach ihrem Ermessen, ob der Schutz der Privatsphäre überwiegt oder das Interesse an einer öffentlichen Erörterung des Falles. 

Im Übrigen kann auch der Angeklagte den Ausschluss der Öffentlichkeit aus eben diesem Grund beantragen.

Erfahrungsgemäß gewähren Gerichte den Ausschluss der Öffentlichkeit in Sexualstrafverfahren in den weit überwiegenden Fällen, wenn der Antrag vom Opferzeugen kommt. Eine Garantie darauf besteht jedoch nie. Ob das deutsche Landgericht den Antrag der Gisèle Pelicot bewilligt hätte, lässt sich nur unter genauer Aktenkenntnis beantworten. Nur so kann präzise abgewogen werden, ob die Privatsphäre überwiegen würde oder das Korrektiverfordernis der Öffentlichkeit. Gerade bei einem sehr belastenden Sachverhalt wird meiner Erfahrung nach durchaus darauf geachtet, dass diesem Wunsch des Opferzeugen auf Privatsphäre nachgekommen wird. Bei Beschuldigten tun sich die Gerichte da oft deutlich schwerer und bewilligen eher bei Ankündigung der Abgabe eines Geständnisses.


Ob Videos, welche die Taten abbilden, im Prozess gezeigt werden, muss mit „Ja“ beantwortet werden. In Deutschland müssen alle Beweismittel, die für und gegen die Schuld des Angeklagten sprechen und damit für die Entscheidungsfindung erheblich sind, in den Prozess eingeführt werden – also über Zeugenvernehmungen präsentiert, Dokumente verlesen oder Gegenstände, Bilder, Videos gezeigt werden. Das Gericht muss seine Entscheidung nämlich aus dem Inbegriff der Hauptverhandlung schöpfen, § 261 StPO. Wenn der Angeklagte ein Geständnis abgegeben hat, kann übereinstimmend auf derartige Sichtungen verzichtet werden.


Normalerweise steht es bei Sexualdelikten Aussage gegen Aussage. Dass Videos der Taten gefertigt wurden, liegt in den wenigstens Fällen vor. Die Videos können bei einer streitigen Verhandlung dann natürlich durchschlagend bei der Bewertung der Aussagen helfen. 

Im Übrigen macht es für die Sichtung der Tatvideos keinen Unterschied, ob die Verhandlung öffentlich ist oder nicht. Wenn die Darstellung im öffentlichen Prozess nicht gewollt ist, wäre es das sinnvollste, den Ausschluss der Öffentlichkeit zu beantragen. Dann werden die Materialen lediglich im kleinen Rahmen in Augenschein genommen.


Auch Pelicot hätte natürlich ein Interesse am Schutz ihrer Privatsphäre. Die öffentliche Verhandlung inkl. Sichtung sämtlicher Belastungsbeweise könnte jedoch auch Vorteile mitsichbringen.


Aus Sicht von Pelicot könnte ein Vorteil an der öffentlichen Darstellung derartiger Videos darin liegen, gerade diese mediale Aufmerksamkeit zu generieren und dadurch einen gewissen Druck aufbauen (sei es beim Angeklagten, aber auch indirekt vielleicht beim Gericht). Die eigene Darstellung vor Gericht ist gerade in solchen Konstellationen von erheblicher Bedeutung und kann jedenfalls unterbewusst entscheidungsfindende Personen beeinflussen - auch wenn das Gericht natürlich vollkommen unabhängig medialer Berichterstattung zu agieren hat und das Urteil aufgrund objektivierbarer Bewertungen zu fällen hat. Auch Richterinnen und Richter sind nur Menschen. Am Ende geht es in den meisten Sexualstrafverfahren um Glaubwürdigkeit und damit um die Wahrnehmung einer individuellen Person. 


Ein selbstbewusster Auftritt kann im Übrigen Opferzeugen beim eigenen Verarbeitungsprozess helfen.


Ein Nachteil für Gisèle Pelicot könnte bei diesem Vorgehen in der Gefahr von Retraumatisierung liegen. Auch wenn der Auftritt augenscheinlich selbstbewusst wirkt, so weiß man als Außenstehende nie, wie es darunter ausschaut. Sobald solche Videos in die Öffentlichkeit getragen werden, muss man sich zwangsläufig nochmal ganz anders damit auseinander setzen. Ob man dann langfristig auch nach Abschluss des Verfahrens den Frieden für sich finden kann, ist oftmals fraglich.


Am Ende ist der Auftritt vielleicht auch ein Zeichen an andere Betroffene, derartige Verfahren mit Mut und Würde durchzustehen. Dass Scham nicht auf Seiten des Opfers, sondern des (hier noch mutmaßlichen) Täters zu suchen ist und diese Taten das eigene Selbstbild nicht zerstören konnten.