Sachverhalt
Bewertungsportale sind für viele Unternehmen Fluch und Segen zugleich. Während positive Rezensionen das Employer‑Branding stärken, können anonyme Negativbewertungen massiven Reputationsschaden anrichten. So erging es auch einem mittelständischen Automobilzulieferer, der sich im Sommer 2022 auf einer bekannten Arbeitgeber‑Plattform mit zwei besonders rufschädigenden Einträgen konfrontiert sah:
Bewertung 1: „Außen hui innen pfui“ – der Verfasser warf dem Unternehmen u. a. vor, Tankversiegelungen ohne Atemschutzmasken durchzuführen und Altöle in den Abfluss zu kippen.
Bewertung 2: „Traumschiff Surprise, planlos durch all …“ – hier lautete der Kerntatbestand, ältere Kollegen würden „einfach rausgeworfen“.
Die Plattformbetreiberin forderte die Verfasser zwar zu Nachweisen auf, löschte mangels Reaktion schließlich die Beiträge, konnte jedoch lediglich die bei ihr gespeicherten Gmail‑Adressen herausgeben.
Um den tatsächlichen Verfassern auf die Spur zu kommen, stellte das Unternehmen beim LG München I einen Antrag auf Gestattung und Verpflichtung der Gmail‑Betreiberin zur Herausgabe von Name und Anschrift der Inhaber dieser E‑Mail‑Konten – gestützt auf § 21 Abs. 2 TDDDG. Die E‑Mail‑Providerin wandte u. a. ein, ihr Dienst unterfalle als „interpersoneller Telekommunikationsdienst“ dem TKG und nicht dem TDDDG; zudem liege eine unzulässige „Kettenauskunft“ vor, da die rechtsverletzenden Inhalte nicht über Gmail, sondern über die Bewertungsplattform verbreitet worden seien.
Entscheidung
Das LG München I gab dem Antrag größtenteils statt (Beschl. v. 19. 2. 2025 – 25 O 9210/24):
Anwendbarkeit des § 21 TDDDG
Ein E‑Mail‑Dienst ist ein „digitaler Dienst“ i. S. d. § 1 Abs. 4 Nr. 1 DDG und damit auch des § 21 TDDDG.
Das Gericht verwarf die von der Providerin konstruierte Exklusivität zwischen TKG und TDDDG: Ein Dienst kann gleichzeitig Telekommunikations‑ und digitaler Dienst sein; die Normregime bestehen nebeneinander.Zulässigkeit der „Kettenauskunft“
Der Auskunftsanspruch knüpft nicht daran an, dass der beanstandete Inhalt unmittelbar über den Dienst des in Anspruch genommenen Anbieters verbreitet wurde.
Zweck der Norm sei, eine effektive zivilrechtliche Rechtsverfolgung zu ermöglichen; dies erfordere es, die „Datenkette“ bis zu ihrem Ursprung zurückzuverfolgen.Rechtswidrige Inhalte
Die Kernaussagen der Bewertungen seien als unwahre Tatsachenbehauptungen i. S. d. §§ 186, 187 StGB ehr‑ und rufschädigend.
Eidesstattliche Versicherungen der Antragstellerin genügten, um ihre Unwahrheit glaubhaft zu machen – insbesondere, weil die Verfasser trotz Aufforderung keine Stellung bezogen hätten.Umfang der Auskunft
Herauszugeben sind Name und Anschrift als „Bestandsdaten“; ein Geburtsdatum sei mangels prozessualer Erforderlichkeit nicht geschuldet.Kosten
Die Antragstellerin trägt gemäß § 21 Abs. 3 S. 7 TDDDG die Kosten des Verfahrens – konsequent, weil die Auskunft nicht als Sanktion, sondern als zivilprozessuale Hilfsmaßnahme konzipiert ist.
Praxishinweise
1. Auskunftsanspruch strategisch nutzen
Unternehmen, die Opfer anonymer Schmähkritik werden, sollten den mehrstufigen Weg über § 21 TDDDG ernsthaft erwägen:
Schritt 1: Negative Bewertung dokumentieren und die Plattform nach dem Notice‑and‑Takedown‑Prinzip zur Löschung und Herausgabe der vorhandenen Anmeldedaten auffordern.
Schritt 2: Führen diese Daten – häufig lediglich eine E‑Mail‑Adresse – nicht zur Identifizierung, kann (und sollte) der jeweilige E‑Mail‑Provider in Anspruch genommen werden. Das LG München I bestätigt, dass die „Kettenauskunft“ zulässig ist.
2. Schwelle der Glaubhaftmachung
Das Gericht stellt klar, dass Betroffene in Gestattungsverfahren nicht jedes Detail beweisen müssen. Eidesstattliche Versicherungen reichen, sofern die Bewertung selbst keinerlei Konkreta enthält und der Verfasser schweigt. Unternehmen sollten deshalb intern Fakten zusammentragen und eine verantwortliche Person die Unrichtigkeit eidesstattlich versichern lassen.
3. Provider‑Compliance
E‑Mail‑ und sonstige Kommunikationsdienste unterliegen seit dem „Rebranding“ des TTDSG zum TDDDG einer erweiterten Auskunftspflicht, auch wenn sie zugleich dem TKG unterfallen. Anbieter sollten ihre Datenhaltungs‑ und Auskunftsprozesse überprüfen:
Prüfen Sie, ob Ihre Nutzungsbedingungen die Speicherung mind. von Name und Anschrift vorsehen oder ob verifizierte Identitätsverfahren genutzt werden.
Halten Sie standardisierte Workflows zur zügigen Bearbeitung von Gerichtsbeschlüssen bereit; andernfalls drohen Zwangsgelder.
4. Anspruchsgegner richtig adressieren
§ 21 TDDDG eröffnet ausdrücklich den Weg gegen „Anbieter digitaler Dienste“. Das kann – wie im Fall – ein US‑amerikanischer Konzern sein. Für die internationale Zuständigkeit genügt laut LG die passive Prozessführungsbefugnis nach Art. 26 EuGVVO. Praktisch ist daher auf sorgfältige Zustellung im Ausland zu achten; ggf. sollte ein deutscher Ableger verklagt werden.
5. Löschung vs. Identifizierung
Plattformbetreiber löschen häufig lieber, als Daten herauszugeben. Das Urteil verdeutlicht, dass die Identifizierung des Täters ein legitimes Ziel ist, das über die bloße Löschung hinausgeht – etwa, um Unterlassungs‑, Widerrufs‑ oder Schadensersatzansprüche durchzusetzen.
6. Keine „Persilschein‑Anonymität“ mehr
Gerade Bewertungsportale werben mit anonymem Feedback. Das Urteil zeigt: Anonymität endet, wo Persönlichkeitsrechte Dritter verletzt werden. Für Nutzer bedeutet das, dass Falschaussagen gravierende Konsequenzen haben können – bis hin zu zivil‑ und strafrechtlicher Haftung.
7. Prozessuale Umsetzung
Zuständig ist gem. § 21 Abs. 3 TDDDG das LG am Sitz des Anbieters oder am Ort der Verletzungshandlung – hier also München.
Das Verfahren wird im Beschlusswege entschieden; eine mündliche Verhandlung findet regelmäßig nicht statt, was die Kosten überschaubar hält, aber eine präzise Antragstellung erfordert.
Beachten Sie, dass die Beschaffung der Daten allein noch kein Unterlassungsurteil ersetzt – im Anschluss muss der Verletzer verklagt oder abgemahnt werden.
8. Datenschutzrechtliche Einordnung
Die Herausgabe von Bestandsdaten erfolgt gesetzlich legitimiert; die Providerin braucht weder eine Einwilligung noch eine Interessenabwägung nach Art. 6 Abs. 1 lit. f DSGVO vorzunehmen. Gleichwohl empfiehlt es sich, den Vorgang intern zu dokumentieren und die Betroffenen – sobald rechtlich möglich – zu informieren.
Fazit
Der Beschluss des LG München I stärkt die Rechte von Unternehmen (und Einzelpersonen), die sich gegen anonyme Diffamierungen im Netz wehren wollen. Zugleich mahnt er digitale Dienstanbieter, ihre rechtlichen Pflichten jenseits des TKG ernst zu nehmen. Für Praktiker ist wichtig zu erkennen, dass § 21 TDDDG ein mächtiges Instrument ist – nicht nur gegen soziale Netzwerke, sondern auch gegen E‑Mail‑ und sonstige Kommunikationsdienste. Wer die Kettenauskunft systematisch einsetzt, kann die Schleier der Anonymität lüften und Rechtsverletzer effektiv zur Verantwortung ziehen.