Das Oberverwaltungsgericht (OVG) Lüneburg hat in einem Beschluss vom 7. Mai 2024 - 7 MS 83/23 - wichtige Aussagen zur Berücksichtigung des Klimaschutzgesetzes (KSG) in Planfeststellungsverfahren getroffen. Für Vorhabenträger und Behörden ergeben sich daraus wichtige Konsequenzen.


I. Kernaussagen des Senats


  1. Klimaschutz als öffentlicher Belang
    Der globale Klimaschutz und die Zielsetzungen des Klimaschutzgesetzes müssen als öffentliche Belange in die Gesamtabwägung des Planfeststellungsverfahrens einbezogen werden.
  2. Ermittlungspflicht
    Die Planfeststellungsbehörde muss im Rahmen des § 13 Abs. 1 Satz 1 KSG eine Berechnung oder Prognose bezüglich der CO₂-Emissionen des Vorhabens vornehmen.
  3. Umfang der Prüfung:
    Der Umfang dieser Prüfung ist anhand des vertretbaren Aufwands zu bemessen, muss aber insbesondere die Folgen bezüglich der Klimaziele des KSG berücksichtigen.

II. Zum Sachverhalt


Das OVG Lüneburg gab dem Antrag eines Antragstellers, einer anerkannte Umwelt- und Naturschutzvereinigung nach § 3 UmwRG, auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage gegen einen Planfeststellungsbeschluss, der auf der Grundlage des § 35 Abs. 2 Kreislaufwirtschaftsgesetz (KrWG) - Errichtung, Betrieb, wesentliche Änderung von Deponien - erging, statt. Der Planfeststellungsbeschluss litt an einem Abwägungsfehler, da die Auswirkungen der Planungsentscheidung auf den Klimaschutz nicht ausreichend ermittelt und in die Entscheidungsfindung eingestellt wurden. Im Einzelnen:


III. Zur rechtlichen Würdigung


Bei Planfeststellungsbeschlüssen ist das Abwägungsgebot zu beachten. Das Abwägungsgebot trägt für den Bereich der Planentscheidungen dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Rechnung. Es ist unmittelbar verfassungsrechtlich gesichert und tritt ergänzend neben das einfache (Fach-) Recht. Es ist deshalb unbeachtlich, wenn das jeweilige Fachrecht nicht ausdrücklich auf das Abwägungsgebot verweist. Ungeachtet dessen wird die Beachtung des Abwägungsgebots im Übrigen in § 75 Abs. 1a VwVfG, welcher i.d.R. durch die Verweisung des Fachrechts - hier: § 38 Abs. 1 Satz 1 KrWG - Anwendung findet, vorausgesetzt.


Das Abwägungsgebot verlangt inhaltlich Folgendes:

  1. Es muss überhaupt eine Abwägung stattfinden.
  2. In die Abwägung muss eingestellt werden, was nach Lage der Dinge eingestellt werden muss.
  3. Die Bedeutung der betroffenen öffentlichen und privaten Belange darf nicht verkannt werden.
  4. Der Ausgleich zwischen ihnen darf nicht in einer Weise vorgenommen werden, die zur objektiven Gewichtigkeit einzelner Belange außer Verhältnis steht.

Mängel bei der Abwägung der von dem Vorhaben berührten öffentlichen und privaten Belange sind gemäß § 75 Abs. 1a VwVfG nur erheblich, wenn sie offensichtlich und auf das Abwägungsergebnis von Einfluss gewesen sind. Erhebliche Mängel bei der Abwägung oder eine Verletzung von Verfahrens- oder Formvorschriften führen nur dann zur Aufhebung des Planfeststellungsbeschlusses oder der Plangenehmigung, wenn sie nicht durch Planergänzung oder durch ein ergänzendes Verfahren behoben werden können; die §§ 45 und 46 VwVfG bleiben unberührt. Innerhalb des so gezogenen Rahmens wird das Abwägungsgebot nicht verletzt, wenn sich die zur Planung ermächtigte Stelle in der Kollision zwischen verschiedenen Belangen für die Bevorzugung des einen und damit notwendig für die Zurückstellung eines anderen entscheidet. Die darin liegende Gewichtung der von der Planung berührten öffentlichen und privaten Belange ist ein wesentliches Element der planerischen Gestaltungsfreiheit und als solches der verwaltungsgerichtlichen Kontrolle entzogen. Diese beschränkt sich im Rahmen des Abwägungsgebots daher auf die Frage, ob die Verwaltungsbehörde die abwägungserheblichen Gesichtspunkte rechtlich und tatsächlich zutreffend bestimmt hat und ob sie – auf der Grundlage des derart zutreffend ermittelten Abwägungsmaterials – die aufgezeigten Grenzen der ihr obliegenden Gewichtung eingehalten hat. Gerichtlich zu beanstanden ist es aber, wenn die Prüfung ergibt, dass bestimmten öffentlichen Belangen im konkreten Fall kein ausreichendes Gewicht zukommt, um entgegenstehende private Belange zu überwinden oder gar diese Prüfung nicht ausreichend präzise vorgenommen werden kann.


Seit Inkrafttreten des KSG gehören der globale Klimaschutz und die Klimaschutzziele des KSG zu den öffentlichen Belangen, die in die Gesamtabwägung eines Planfeststellungsverfahrens einzustellen sind (BVerwG, Urteil vom 4.5.2022 – 9 A 7.21). Zu beachten ist insb. das Berücksichtigungsgebot des § 13 Abs. 1 Satz 1 KSG.


§ 13 KSG lautet:

  1. Die Träger öffentlicher Aufgaben haben bei ihren Planungen und Entscheidungen den Zweck dieses Gesetzes und die zu seiner Erfüllung festgelegten Ziele zu berücksichtigen. Die Kompetenzen der Länder, Gemeinden und Gemeindeverbände, das Berücksichtigungsgebot innerhalb ihrer jeweiligen Verantwortungsbereiche auszugestalten, bleiben unberührt. Bei der Planung, Auswahl und Durchführung von Investitionen und bei der Beschaffung auf Bundesebene ist für die Vermeidung oder Verursachung von Treibhausgasemissionen ein CO2-Preis, mindestens der nach § 10 Absatz 2 Brennstoff-Emissionshandelsgesetz gültige Mindestpreis oder Festpreis zugrunde zu legen.
  2. Der Bund prüft bei der Planung, Auswahl und Durchführung von Investitionen und bei der Beschaffung, wie damit jeweils zum Erreichen der nationalen Klimaschutzziele nach § 3 beigetragen werden kann. Kommen mehrere Realisierungsmöglichkeiten in Frage, dann ist in Abwägung mit anderen relevanten Kriterien mit Bezug zum Ziel der jeweiligen Maßnahme solchen der Vorzug zu geben, mit denen das Ziel der Minderung von Treibhausgasemissionen über den gesamten Lebenszyklus der Maßnahme zu den geringsten Kosten erreicht werden kann. Mehraufwendungen sollen nicht außer Verhältnis zu ihrem Beitrag zur Treibhausgasminderung stehen. Soweit vergaberechtliche Bestimmungen anzuwenden sind, sind diese zu beachten.
  3. Bei der Anwendung von Wirtschaftlichkeitskriterien durch den Bund sind bei vergleichenden Betrachtungen die entstehenden Kosten und Einsparungen über den jeweiligen gesamten Lebenszyklus der Investition oder Beschaffung zugrunde zu legen.

Das Berücksichtigungsgebot des § 13 Abs. 1 Satz 1 KSG erfordert, dass im Rahmen der Abwägung die Auswirkungen der Planungsentscheidung auf den Klimaschutz – bezogen auf die in §§ 1 und 3 KSG konkretisierten nationalen Klimaschutzziele – zu ermitteln und die Ermittlungsergebnisse in die Entscheidungsfindung einzustellen sind.


§ 1 KSG lautet:

Zweck dieses Gesetzes ist es, zum Schutz vor den Auswirkungen des weltweiten Klimawandels die Erfüllung der nationalen Klimaschutzziele sowie die Einhaltung der europäischen Zielvorgaben zu gewährleisten. Die ökologischen, sozialen und ökonomischen Folgen werden berücksichtigt. Grundlage bildet die Verpflichtung nach dem Übereinkommen von Paris aufgrund der Klimarahmenkonvention der Vereinten Nationen, wonach der Anstieg der globalen Durchschnittstemperatur auf deutlich unter 2 Grad Celsius und möglichst auf 1,5 Grad Celsius gegenüber dem vorindustriellen Niveau zu begrenzen ist, um die Auswirkungen des weltweiten Klimawandels so gering wie möglich zu halten.


§ 3 KSG lautet:

  1. Die Treibhausgasemissionen werden im Vergleich zum Jahr 1990 schrittweise wie folgt gemindert:

    1. bis zum Jahr 2030 um mindestens 65 Prozent,
    2. bis zum Jahr 2040 um mindestens 88 Prozent.

  2. Bis zum Jahr 2045 werden die Treibhausgasemissionen so weit gemindert, dass Netto-Treibhausgasneutralität erreicht wird. Nach dem Jahr 2050 sollen negative Treibhausgasemissionen erreicht werden.
  3. Die Möglichkeit, die nationalen Klimaschutzziele teilweise im Rahmen von staatenübergreifenden Mechanismen zur Minderung von Treibhausgasemissionen zu erreichen, bleibt unberührt.
  4. Sollten zur Erfüllung europäischer oder internationaler Klimaschutzziele höhere nationale Klimaschutzziele erforderlich werden, so leitet die Bundesregierung die zur Erhöhung der Zielwerte nach Absatz 1 notwendigen Schritte ein. Klimaschutzziele können erhöht, aber nicht abgesenkt werden.

Das Berücksichtigungsgebot des § 13 Abs. 1 Satz 1 KSG verlangt von der Planfeststellungsbehörde, mit einem – bezogen auf die konkrete Planungssituation – vertretbaren Aufwand zu ermitteln, welche CO2-relevanten Auswirkungen das Vorhaben hat und welche Folgen sich daraus für die Klimaziele des Bundes-Klimaschutzgesetzes ergeben. Der Behörde kommt insoweit die Pflicht zu, die zu erwartende Menge an Treibhausgasen, welche aufgrund des Projekts emittiert werden, zu ermitteln; nur bei unverhältnismäßigem Ermittlungsaufwand kommt (zumindest) eine Schätzung in Betracht (BVerwG, Beschluss vom 22.6.2023 – 7 VR 3.23 ).


Die Berücksichtigungspflicht ist sektorübergreifend im Sinne einer Gesamtbilanz zu verstehen. Klimarelevant sind alle in Anlage 1 des KSG genannten Sektoren (BVerwG, Urteil vom 4.5.2022, a. a. O.):

  1. Energiewirtschaft
  2. Industrie
  3. Gebäude
  4. Verkehr
  5. Landwirtschaft
  6. Abfallwirtschaft und Sonstiges
  7. Landnutzung, Landnutzungsänderung und Forstwirtschaft

Bei den Planungen und Entscheidungen muss die Frage in den Blick genommen werden, ob und inwieweit diese Einfluss auf die Treibhausgasemissionen haben und die Erreichung der sich aus dem KSG ergebenden Klimaziele gefährden können, und zwar sowohl in der Bau- als auch in der nachfolgenden Betriebsphase.

Dem ist der Antragsgegner nicht nachgekommen.


Der Einwand des Antragsgegners, der von dem Antragsteller geltend gemachten Einbeziehung der Klimaschutzbelange in die Gesamtabwägung stünde die Regelung in § 4 Abs. 1 Satz 10 KSG entgegen, wonach subjektive Rechte und klagbare Rechtspositionen durch oder aufgrund des Gesetzes nicht begründet werden, wurde vom Senat zurückgewiesen. Dem Antragsteller steht als anerkannte Umwelt- und Naturschutzvereinigung nach § 3 UmwRG gemäß § 2 Abs. 1 UmwRG unabhängig von der Geltendmachung einer Verletzung eigener Rechte ein Klagerecht gegen den streitigen Planfeststellungsbeschluss als Zulassungsentscheidung i. S. d. § 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 UmwRG zu, da zu den umweltbezogenen Vorschriften auch die Klimaschutzziele gehören und der Antragsteller in Folge dessen auch die Frage der ordnungsgemäßen Einbeziehung der Klimaschutzbelange in Ermessens- und Abwägungsentscheidungen gerichtlich überprüfen zu lassen kann.


Auch der Einwand, klimaschutzrelevante Belange seien in UVP ausreichend berücksichtigt worden, wurde zurückgewiesen. Die Berücksichtigung der Belange des Klimaschutzes im Rahmen der UVP ist unzureichend, wenn dies in der Gesamtabwägung keine Berücksichtigung findet:

  • "Soweit der Antragsgegner und die Beigeladene die Auffassung vertreten, eine hinreichende Befassung mit dem Thema „Klimaschutz“ ergebe sich schon aus dessen Berücksichtigung im Rahmen der UVP, kann dem nicht gefolgt werden. Zum einen unterscheidet der Planfeststellungsbeschluss schon nach seiner Gliederung explizit zwischen der Umweltverträglichkeitsprüfung („C.“) als Bestandteil der Begründung („IV.“) einerseits und der Gesamtabwägung („VII.“) andererseits. Zum anderen können UVP und Gesamtabwägung sich zwar inhaltlich thematisch überschneiden, weil sich Ermittlungspflichten in Bezug auf Klimawirkungen auch aus dem UVPG ergeben; die UVP zielt allerdings allein auf eine formalisierte, verfahrensrechtlich ausgestaltete, aber in erster Linie tatsächliche Prognose der erheblichen Umweltauswirkungen, die lediglich dazu beiträgt, die Prüfung der Zulassungsfähigkeit eines Vorhabens bzw. die Planungsentscheidung anhand der dafür im Fachrecht sodann normierten materiell-rechtlichen Maßstäbe – zu denen § 13 KSG zählt – vorzubereiten (Fellenberg in: Fellenberg/Guckelberger, Klimaschutzrecht, 1. Aufl., § 13 KSG Rn. 34); sie ersetzt hingegen nicht die eigenständige Abwägung sich gegenüberstehender Belange. Ungeachtet dessen lässt sich den betreffenden Stellen des Planfeststellungsbeschlusses auch nicht eine im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts erfolgte Auseinandersetzung entnehmen, inwieweit diese Einfluss auf die Treibhausgasemissionen haben und die Erreichung der sich aus dem KSG ergebenden Klimaziele gefährden können. Eine derartige Abwägung hat schließlich durch die zuständige Planfeststellungsbehörde selbst – ggf. im Rahmen eines ergänzenden Verfahrens – zu erfolgen, so dass auch nicht etwaige entsprechende Ausführungen der Beigeladenen in den eingereichten Schriftsätzen, ungeachtet der Frage, ob diese ausreichend wären, durch das Gericht im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes herangezogen werden können."

Der so vorliegende Abwägungsmangel ist erheblich im Sinne von § 75 Abs. 1a Satz 1 VwVfG, weil er offensichtlich ist, und – schon mangels hinreichender Anhaltspunkte – jedenfalls nicht auszuschließen ist, dass er auf das Abwägungsergebnis von Einfluss sein kann.