Der europäische Handel hat sich in den letzten Jahrzehnten enorm gewandelt. Herstellung, Vertrieb und Nutzung heutiger Waren sind nicht mehr das, was sie im Jahr 1985 waren, als die erste Produkthaftungsrichtlinie eingeführt wurde. Insbesondere durch die Verbreitung digitaler Produkte, künstlicher Intelligenz und den weltweiten Handel braucht es neue Gesetze, um den Verbraucher ausreichend zu schützen und Klarheit zu schaffen.


Erweiterter Produktbegriff für digitale Welt

Die neue Produkthaftungsrichtlinie erweitert den Produktbegriff und passt ihn an die Anforderungen moderner Technologien an. Während bisher nur bewegliche Sachen unter die Regelung fielen, umfasst der Produktbegriff nun auch digitale Güter. Dazu zählen Software, sowohl integrierte als auch eigenständige Anwendungen, sowie digitale Produktionsdateien. Zusätzlich werden Elektrizität, digitale Bauunterlagen und Rohstoffe erfasst. Von der Haftung ausgenommen bleiben jedoch Open-Source-Software und nicht kommerzielle Software.


Anerkennung digitaler Schäden und psychischer Beeinträchtigungen

Auch das Verständnis für Fehler und Schäden wurde ausgeweitet. Die überarbeitete Produkthaftungsrichtlinie stärkt den Verbraucherschutz, indem sie erstmals auch psychische Beeinträchtigungen und Datenverluste als Schäden anerkennt. Produkte gelten als fehlerhaft, wenn sie nicht den berechtigten Sicherheitserwartungen entsprechen, oder etwa durch das Fehlen notwendiger Software-Updates und unzureichende Cybersicherheit, die digitale Schäden wie Hackerangriffe begünstigen.


Umfassende Haftung entlang der Lieferkette

Die neue Regelung erweitert die Haftung auf alle Akteure der Liefer- und Vertriebskette. Hersteller und Quasihersteller haften für fehlerhafte Produkte, ebenso Zulieferer für fehlerhafte Bauteile. Wer Produkte wesentlich verändert, wird ebenfalls haftbar. Bevollmächtigte, Fulfillment-Dienstleister, Einzelhändler und Online-Marktplätze können verschuldensunabhängig haften, insbesondere wenn Hersteller nicht identifizierbar sind. Ziel ist ein umfassender Verbraucherschutz.


Erleichterte Beweisführung für Verbraucher

Im Rahmen der Produkthaftungsrichtlinie wird die Beweisführung für Verbraucher erheblich erleichtert. Während bisher der Kläger den Produktfehler, den Schaden und den Kausalzusammenhang selbst nachweisen musste, führen nun klare Vermutungsregeln zu einer spürbaren Entlastung. Wenn ein Hersteller wichtige Informationen über sein Produkt nicht offenlegt, wird die Fehlerhaftigkeit des Produkts vermutet. Ebenso gilt bei typischen Schäden, die auf einen Fehler hinweisen, eine Vermutung für den Kausalzusammenhang zwischen Fehler und Schaden. In besonders komplexen Fällen, wie bei KI-Systemen oder digitalen Produkten, genügt es, die Fehlerhaftigkeit und Kausalität plausibel zu machen, um eine Vermutung in diese Richtung auszulösen. Diese Regelungen stärken Verbraucherrechte und erleichtern die Durchsetzung von Ansprüchen bei modernen und technisch anspruchsvollen Produkten.


Offenlegungspflicht für Beweismittel

Erstmals wird eine Pflicht zur Offenlegung von Beweismitteln eingeführt. Auf Antrag des Klägers muss der Beklagte im Gerichtsverfahren relevante Beweismittel, die sich in seiner Verfügungsgewalt befinden, offenlegen. Diese Pflicht scheint nicht, wie in § 142 ZPO, auf Urkunden beschränkt zu sein, sondern könnte auch andere Beweismittel umfassen. Umgekehrt kann auch der Kläger auf Antrag des Beklagten zur Offenlegung verpflichtet werden. Diese Regelung soll die Beweissituation in komplexen Verfahren, etwa bei der Nutzung von KI-Systemen oder digitalen Produkten, verbessern. Allerdings wirft sie Fragen hinsichtlich des Schutzes von Geschäftsgeheimnissen und des Umfangs der Offenlegungspflicht auf, was potenziell problematisch sein könnte.


Klare Haftungsgrenzen und Wegfall von Selbstbehalten

Die neue Produkthaftungsrichtlinie regelt Haftungsbefreiungen und Grenzen präziser. Hersteller haften nicht, wenn ein Fehler beim Inverkehrbringen noch nicht bestand, es sei denn, der Fehler tritt später auf und das Produkt bleibt unter ihrer Kontrolle (z. B. durch fehlende Updates). Ansprüche verjähren in der Regel nach 10 Jahren, bei schleichend auftretenden Gesundheitsschäden nach 25 Jahren. Selbstbehalte und Haftungshöchstgrenzen entfallen, wodurch Geschädigte vollständig entschädigt werden können.


Umsetzung und Wirkung

Die neue Produkthaftungsrichtlinie ist bis spätestens Ende 2026 von den EU-Mitgliedstaaten in nationales Recht umzusetzen. Ab diesem Zeitpunkt entfaltet sie unmittelbare Wirkung und gilt für alle Produkte, die innerhalb der EU in Verkehr gebracht werden.