Bundesverfassungsgericht Beschluss v. 18.11.2024 – 1 BvR 2297/24

Am 18. November 2024 entschied das Bundesverfassungsgericht, eine Verfassungsbeschwerde gegen den vollständigen Entzug des elterlichen Sorgerechts nicht zur Entscheidung anzunehmen. Der Beschwerdeführer, ein Vater, hatte gegen die Entscheidung des Oberlandesgerichts Köln Einspruch erhoben, welches ihm das Sorgerecht für sein im Jahr 2021 geborenes Kind endgültig entzogen hatte.


Im April 2022 wurde das Kind in Obhut des Jugendamts genommen, nachdem Berichte über Konflikte zwischen den Eltern und Hinweise auf Drogenkonsum eingegangen waren. Die Eltern hatten sich vorübergehend mit einer Unterbringung des Kindes in einer Pflegefamilie einverstanden erklärt, wo es auch weiterhin lebte.
Das Familiengericht hatte dem Vater und der Mutter auf Grundlage eines familienpsychologischen Gutachtens das Sorgerecht vollständig entzogen. Die Begründung: Das Kind, das an gesundheitlichen Einschränkungen wie Mikrozephalie leidet, hat einen erhöhten Förderbedarf, dem der Vater nicht gerecht werden könne. Das Oberlandesgericht Köln bestätigte diese Entscheidung.
Mit seiner Verfassungsbeschwerde machte der Vater geltend, dass sein Grundrecht auf elterliche Sorge aus Artikel 6 Absatz 2 des Grundgesetzes verletzt sei. Insbesondere kritisierte er eine unzureichende Sachverhaltsaufklärung durch die Fachgerichte.
Die EntscheidungDas Bundesverfassungsgericht lehnte die Beschwerde ab, da sie nicht ausreichend begründet war. Zentrale Unterlagen, wie das familienpsychologische Gutachten, Berichte über den Gesundheitszustand des Kindes sowie weitere Verfahrensdokumente, waren nicht vorgelegt worden. Ohne diese Dokumente war es dem Gericht nicht möglich, die vom Beschwerdeführer behauptete Grundrechtsverletzung zu prüfen.


Gleichzeitig stellte das Gericht fest, dass die Fachgerichte im Ausgangsverfahren zwar eine knappe, aber rechtlich vertretbare Begründung geliefert hatten. Angesichts der dokumentierten gesundheitlichen und entwicklungsbedingten Beeinträchtigungen des Kindes sahen die Gerichte keinen anderen Weg, als den vollständigen Sorgerechtsentzug vorzunehmen.


Starkes ElternrechtDer Entzug des Sorgerechts und die Trennung von Eltern und Kind stellen einen der schwerwiegendsten Eingriffe in das Elternrecht nach Artikel 6 Abs. 2 des Grundgesetzes dar. Eine solche Maßnahme ist nur dann zulässig, wenn das Kindeswohl durch das Verhalten der Eltern erheblich gefährdet wird. Zu den strengen Voraussetzungen, an die ein derart schwerwiegender Eingriff in die Elternrechte geknüpft ist und welche von den entscheidenden Familiengerichten zu beachten sind, führt das Bundesverfassungsgericht aus:


Eine räumliche Trennung des Kindes von seinen Eltern stellt den stärksten Eingriff in das Elterngrundrecht dar. Art. 6 Abs. 3 GG erlaubt eine solche Trennung nur unter der strengen Voraussetzung, dass das elterliche Fehlverhalten ein solches Ausmaß erreicht, dass das Kind bei den Eltern in seinem körperlichen, geistigen oder seelischen Wohl nachhaltig gefährdet wäre (…)
Mit diesen strengen Voraussetzungen für einen mit einer Trennung des Kindes von seinen Eltern einhergehenden Entzug des Sorgerechts korrespondieren außerdem Anforderungen an die Begründung der entsprechenden fachgerichtlichen Entscheidung. Bewirkt eine auf der Grundlage von § 1666 BGB getroffene familiengerichtliche Entscheidung eine Trennung des Kindes von seinen Eltern, folgt aus dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz wegen der hohen Eingriffsintensität die Verpflichtung der Fachgerichte, die dem Kind drohenden Schäden ihrer Art, Schwere und Eintrittswahrscheinlichkeit nach konkret zu benennen (…)


Im vorliegenden Fall sah das Bundesverfassungsgericht die gerichtliche Dokumentation der gesundheitlichen Beeinträchtigungen und des Förderbedarfs des Kindes gerade noch als hinreichend an. Für das Kind sei eine Verbesserung seiner Lebensumstände nur durch eine Fremdunterbringung und die Vormundschaft des Jugendamts zu erwarten.


Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts verdeutlicht erneut die hohen Hürden, die für den vollständigen Entzug des elterlichen Sorgerechts genommen werden müssen.

Aus der eigenen Praxis

Die schwierige Balance zwischen staatlicher Eingriffsgewalt und den verfassungsrechtlich geschützten Rechten der Eltern, zeigt auch ein Fall aus der eigenen Praxis. 

Das Amtsgericht München hat am 13.11.2024 (Az. 569 F 9511/24) einen Beschluss über den Entzug des elterlichen Sorgerechts aufgehoben und mit Beschluss vom 07.01.2025 (Az. 569 F 9549/24) auch das Hauptsacheverfahren für erledigt erklärt.

Hintergrund des Verfahrens

Im September 2024 war den Eltern das Aufenthaltsbestimmungsrecht für den sechsjährigen Sohn nach Inobhutnahme durch das Jugendamt und Anrufung des Familiengerichts gemäß §§ 8 a SGB VIII, 1666 BGB entzogen worden. 

Das Jugendamt begründete die Maßnahme – neben unsubstantiierten Gewaltvorwürfen – im Wesentlichen damit, dass das Kind starke Entwicklungsverzögerungen aufweise und von den Eltern nicht ausreichend gefördert werden könne. 

Mit dem Vortrag, dass die Eltern im Vorfeld stets kooperativ mit dem Jugendamt zusammengearbeitet und eine ambulante Erziehungshilfe beantragt hatten, die allerdings nicht genehmigt worden war und eine weitergehende Diagnostik zu den bei dem Sohn vorliegenden Entwicklungsverzögerungen durch die Eltern in die Wege geleitet wurde, wurde dem Vorbringen des Jugendamts im Verfahren entgegengetreten.

Maßgeblicher Gesichtspunkt war aus Elternsicht, dass die Vorwürfe des Jugendamts teils ins Blaue hinein erfolgten und damit haltlos waren und zudem das Kindswohl nicht dadurch gefährdet werde, dass die Eltern auf Unterstützung angewiesen seien, um dem Kind eine bestmögliche Förderung zu teil werden zu lassen. Diese Hilfe sei ihnen verwehrt worden. Eine Rückführung des Kindes in den elterlichen Haushalt mit Unterstützung durch ambulante Hilfen sei ausreichend, um das Wohl des Kindes sicherzustellen. Der Umgang und die Beziehung der Eltern mit dem Kind waren zudem innig und liebevoll, wovon schließlich auch das Gericht überzeugt war.

Entscheidung des Gerichts

Das Gericht stellte fest, dass eine Herausnahme des Kindes aus der Familie den schwerwiegendsten Eingriff in das Elternrecht gemäß Art. 6 Abs. 2 GG darstellt. Eine solche Maßnahme sei nur dann gerechtfertigt, wenn das Wohl des Kindes im familiären Umfeld nachhaltig gefährdet ist. Dies war im vorliegenden Fall nicht gegeben.

Das Gericht hatte sich im Rahmen der Anhörung vom starken emotionalen Band zwischen den Eltern und dem Kind überzeugen können, was ein bedeutender Faktor für die Rückführung sei. Die Eltern hätten durch ihr Verhalten und die Inanspruchnahme von Unterstützungsmaßnahmen gezeigt, dass sie zur Sicherstellung des Kindeswohls bereit seien. 

Eine Unterbringung des Kindes sei nur gerechtfertigt, wenn eine nachhaltige Kindeswohlgefährdung vorliege. Fehlende "Optimierung" oder suboptimale Förderbedingungen rechtfertigten keinen solchen Eingriff.

Das Gericht betonte, dass es nicht die Aufgabe des Staates sei, für eine „bestmögliche Förderung“ zu sorgen, sondern lediglich nachhaltige Gefährdungen abzuwenden. Das Gericht wies allerdings darauf hin, dass die Eltern weiterhin eng mit Fachstellen zusammenarbeiten und Hilfsangebote annehmen müssten, um die Förderung und Entwicklung des Kindes zu gewährleisten.

Die Aufhebung der im Eilverfahren getroffenen vorläufigen Entscheidung bestätigte sich im Rahmen des Hauptsacheverfahrens (Az. 569 F 9549/24) nach Einholung eines familienpsychologischen Kurzgutachtens, welches den Vortrag der Eltern im Wesentlichen bestätigte.

Diese Entscheidung zeigt, wie wichtig eine ausgewogene Abwägung zwischen Kindeswohl und Elternrechten ist. Die Verfassung gibt den Eltern das Recht, ihre Kinder zu erziehen, auch wenn dies mit Herausforderungen verbunden ist. Ein Recht auf optimale Eltern und Förderung gibt es nicht. Der Staat darf nur dann eingreifen, wenn tatsächlich eine nachhaltige Gefährdung vorliegt. Gleichzeitig wird deutlich, wie entscheidend die Kooperation der Eltern mit Fachstellen ist, um eine tragfähige Lösung zum Wohl des Kindes zu gewährleisten.