1. Einleitung und Kontext der Entscheidung
Die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts Mecklenburg-Vorpommern (Urteil vom 27.04.2022 – Az. 5 Sa 173/21) betrifft die Voraussetzungen und Grenzen des arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatzes bei der Vergütung von Arbeitnehmern. Im Zentrum steht die Frage, ob ein seit vielen Jahren beschäftigter Arbeitnehmer einen Anspruch auf ein höheres Gehalt hat, das später eingestellten Arbeitnehmern für vergleichbare Tätigkeiten gewährt wurde.
Das Urteil stellt klar, dass allein die unterschiedliche Vergütung von Arbeitnehmern nicht zwingend einen Verstoß gegen den arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz begründet, wenn für die Differenzierung sachliche Gründe vorliegen. Das Gericht verneint in diesem konkreten Fall eine Pflicht zur nachträglichen Angleichung der Entgelte und betont zugleich den Gestaltungsspielraum des Arbeitgebers bei der Ausgestaltung individueller Arbeitsverhältnisse.
2. Sachverhalt
Der Kläger ist seit dem Jahr 2007 bei der Beklagten tätig. Sein monatliches Bruttoentgelt betrug rund 2.500 EUR. In den Jahren 2015 bis 2017 stellte die Beklagte eine größere Zahl neuer Arbeitnehmer ein, die für identische oder zumindest vergleichbare Tätigkeiten ein zum Teil deutlich höheres Grundentgelt erhielten. Die Vergütung dieser neuen Mitarbeiter lag teils 500 bis 800 EUR über der des Klägers.
Der Kläger sah hierin eine sachlich nicht gerechtfertigte Ungleichbehandlung und machte im Wege der Leistungsklage die Differenzvergütung geltend. Das Arbeitsgericht Rostock wies die Klage ab. Mit der Berufung verfolgte der Kläger sein Begehren weiter.
3. Entscheidungsgründe des Landesarbeitsgerichts
Das LAG wies die Berufung zurück und bestätigte die erstinstanzliche Entscheidung. Es führte aus, dass im vorliegenden Fall keine Verletzung des arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatzes gegeben sei, da die ungleiche Vergütung auf sachlich nachvollziehbaren Erwägungen beruhe.
a) Kein Gleichbehandlungsverstoß bei sachlicher Differenzierung
Der arbeitsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz gebietet es dem Arbeitgeber, vergleichbare Arbeitnehmergruppen gleich zu behandeln. Eine Ungleichbehandlung ist jedoch zulässig, wenn hierfür sachlich gerechtfertigte Gründe vorliegen. Entscheidend sei, ob eine Gruppe von Arbeitnehmern bewusst benachteiligt wird oder ob die Ungleichbehandlung auf rechtlich anzuerkennenden Differenzierungskriterien beruht.
Im vorliegenden Fall habe die Beklagte nachvollziehbar dargelegt, dass die höheren Gehälter für neu eingestellte Arbeitnehmer im Wesentlichen auf geänderte arbeitsmarktbezogene Rahmenbedingungen zurückzuführen seien. Aufgrund eines zunehmenden Fachkräftemangels habe es der Arbeitgeber für erforderlich gehalten, für neu zu besetzende Stellen bessere Konditionen anzubieten, um überhaupt geeignetes Personal gewinnen zu können.
b) Keine einheitliche Regelung oder Gruppenbildung
Das Gericht stellte weiter fest, dass keine einheitliche Regelung im Sinne eines kollektiven Entlohnungssystems bestand, die eine Gleichbehandlung erforderlich gemacht hätte. Vielmehr seien sämtliche Arbeitsverträge individuell ausgestaltet worden. Der Arbeitgeber habe sich nicht eines generalisierenden Systems bedient, sondern auf individuelle Gehaltsverhandlungen in unterschiedlichen Marktsituationen zurückgegriffen.
Es fehle damit an einer bewussten und generalisierten Schlechterstellung einer homogenen Gruppe von Bestandsmitarbeitern. Die bloße Tatsache, dass ältere Mitarbeiter weniger verdienen als neu eingestellte, reiche allein nicht aus, um eine sachwidrige Ungleichbehandlung anzunehmen.
c) Kein Kontrahierungszwang auf höherem Niveau
Das LAG unterstreicht ferner, dass es keine arbeitsrechtliche Verpflichtung des Arbeitgebers gebe, den Inhalt neuer Arbeitsverträge automatisch auf Bestandsmitarbeiter zu übertragen. Der Gleichbehandlungsgrundsatz verpflichtet nicht zur Schaffung einheitlicher Vertragsbedingungen für die gesamte Belegschaft. Vielmehr sei es Ausfluss der Vertragsfreiheit, dass in unterschiedlichen Situationen unterschiedliche Konditionen vereinbart werden dürfen – solange dies nicht willkürlich geschieht.
4. Ergebnis und Bedeutung der Entscheidung
Das Landesarbeitsgericht Mecklenburg-Vorpommern hat die Klage auf Zahlung eines Differenzlohns abgewiesen. Es sah in der höheren Vergütung später eingestellter Arbeitnehmer keine unzulässige Diskriminierung des Klägers, da sachlich tragfähige Gründe – insbesondere betriebswirtschaftliche Notwendigkeiten zur Personalgewinnung – dargelegt wurden.
Die Entscheidung stärkt den Gestaltungsspielraum von Arbeitgebern bei Neueinstellungen und differenziert zutreffend zwischen willkürlicher Ungleichbehandlung und gerechtfertigter Anpassung an Marktbedingungen. Sie betont zugleich, dass der arbeitsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz nicht zu einer dynamischen Anpassung aller bestehenden Arbeitsverhältnisse an neue Gehaltsniveaus verpflichtet.