Vergleiche: VG Freiburg Urteil v. 21.02.2024 Az. 9 K 2136/21
1.
Hat die Marktaufsichtsbehörde gegenüber einem Händler einen Warenrückruf auf Grund behördlich angeordneter negativer Testberichte angeordnet, muss dem Händler die Möglichkeit gegeben werden, die betroffenen Produkte zu prüfen bzw. durch ein Prüfinstitut prüfen zu lassen und sich zu entlasten.
Nach dem verfahrensrechtlichen Kooperationsprinzip erörtert die Marktaufsichtsbehörde mit den Beteiligten, welche Nachweise und Unterlagen zu erbringen sind und in welcher Weise das Verfahren beschleunigt werden kann. Ferner sollen die Beteiligten die Möglichkeit erhalten bei der Ermittlung des maßgeblichen Sachverhaltes mitzuwirken und sich innerhalb angemessener Fristen zum Sachstand zu erklären.
Die Marktaufsichtsbehörde muss bei ihren Ermittlungen auch die für die Beteiligten günstigen Umstände berücksichtigen.
2.
Hat die Marktaufsichtsbehörde dem Händler die Möglichkeit eingeräumt sich durch Einholung eines Prüfgutachtens eines beauftragten Prüfinstituts zu entlasten und einigen sich Marktaufsicht und Händler hierauf, so muss der Händler das Prüfgutachten unaufgefordert und unverzüglich der Marktaufsichtsbehörde überlassen.
Die Nichtvorlage berechtigt die Marktaufsichtsbehörde zu dem Schluss, dass auch dieses Gutachten zu einem negativen Ergebnis mit einer Produktuntauglichkeit gekommen ist.
3.
Eine positive EU-Baumusterprüfung durch ein EU-zertifiziertes Prüfinstitut begründet für ein Produkt grundsätzlich eine Konformitätsvermutung.
Diese kann aber durch individuelle negative Prüfberichte widerlegt werden, weil auch nach Durchführung des Konformitätsbewertungsverfahrens jedes einzelne nach dem Baumuster produzierte Produkt die Gesundheits- und Sicherheitsanforderungen erfüllen muss.
4.
Einer Rückrufanordnung sind ausreichend plausible und realistische Verletzungsszenarien und Prognosen zur Feststellung eines mit der Nutzung des Produkts verbundenen „ernsten Risikos“ zu Grunde zu legen.
Die dazu aufgestellte Risikobewertung muss bestimmten Anforderungen der RAPEX-Richtlinie entsprechen und dem Leitfaden für die Risikobewertung von Verbraucherprodukten genügen. Entsprechendes wird wohl auch auf die Risikobewertung nach der neuen EU-Produktsicherheitsverordnung (2023/988/EU) anzuwenden sein.
Zueinander in Bezug gesetzt ergeben die Feststellungen zum Schweregrad möglicher Verletzungen und die damit verbundene Eintrittswahrscheinlichkeit vier Risikostufen, die von einem niedrigen, mittleren, hohen bis zu einem ernsten Risiko reichen. Ein ernstes Risiko ist so etwa bei einer schweren Gesundheitsverletzung gemäß Schweregrad 4 und einer Eintrittswahrscheinlichkeit von lediglich mindestens einem Schadensfall bei insgesamt 10.000 Fällen anzunehmen.
5.
Die behördliche Anordnung des Rückrufs der gesamten Produktion eines Produkts statt einer auf eine bestimmte Produktions-Charge des Produkts begrenzten Rückrufanordnung ist nicht wegen Verstoßes gegen den das behördliche Auswahlermessen begrenzenden Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ermessensfehlerhaft und damit nicht rechtwidrig, wenn keine ausreichenden Anhaltpunkte für eine Beschränkung des Produktmangels auf bestimmte Produktions- oder Lieferchargen vorliegen und auch sonst keine gleich gut geeigneten Schutzmaßnahmen ersichtlich sind.
Lassen sich die Produkte nicht in unterschiedliche Produktions- bzw. Lieferzeiträume einteilen, etwa wenn es an Informationen für abgrenzbare Produktions- oder Lieferchargen fehlt, wird sich der Produktmangel nicht bzw. nur äußert schwierig auf einen Teil der Produktion oder Lieferung beschränken lassen.
Die Beschränkung des Rückrufs auf bestimmte Produktions- oder Lieferchargen wäre jedoch in jedweder Hinsicht von großem Vorteil für die betroffenen Hersteller oder Händler. Dies gilt sowohl für die praktische Umsetzung des Produktrückrufes als auch für die Verbraucherbetroffenheit und alle mit einem Produktrückruf verbundenen Kosten.
Es empfiehlt sich daher, dass Hersteller und Händler auf eine Abgrenzung unterschiedlicher Produktions- und Lieferchargen Wert legen und diese ausreichend dokumentieren.
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